Zitat:
Im Grundsatz verstehe ich ChrisH und mayo auch was mich allerdings interessieren würde ist:
Bauen die Herren (nicht nur bmw leute sondern alle hersteller) heute soviele Helferlein ein weil das Auto sonst "mal lapidar ausgedrückt" scheisse/unfahrbar wäre oder einfach nur deswegen damit selbst der blöde vollidiot das Auto nicht von der Straße werfen kann.
Sprich
- Ist das Fahrzeug an sich betrachtet auf die Helferlein angewiesen
- oder wird nur alles zugepflastert damit jeder Hund einigermaßen fahren kann.
Wenn Variante 1 stimmt warum ist das so? Wollen oder Können die Hersteller kein richtig gut und sicher liegendes Auto mehr bauen?
(Zitat von: Timmiii)
Die Frage ist gleichermaßen komplex wie berechtigt.
- Zunächst betrifft das in der Tat praktisch alle "normalen" Hersteller, nicht nur BMW.
- Zum einen kommt da immer das Marketing mit rein. Das neue Modell muss irgendwelche Neuerungen haben, die es vom Vorgänger und der Konkurrenz abheben (zumindest auf dem Papier). Das kann sich äußern in gewachsenen Außenmaßen, (soll dem Kunden irgendwie das Gefühl geben, "mehr Auto" zu bekommen). Es geht über Infotainment-Spielereien zu noch mehr automatisierten Funktionen (z.B. Innenlicht dimmt automatisch herunter, wenn es heller wird, aber nur bei Temperaturen über 5 °C und nicht zwischen Weihnachten und Ostern. Dabei wird "Brave Scotland" gespielt, um dem Vorgang Dramatik zu verleihen). Und es geht von Haptik der Oberflächen eben hin zu Assistenzsystemen.
Bis hierhin hat das ganze wenig mit Sicherheit und Fahrverhalten zu tun und viel mit Marketing.
- Ein anderer Aspekt sind die steigenden Leergewichte und wachsenden Abmessungen und der Wunsch des Marketings, das Auto möge sich "sportlich agil" anfühlen. Eigentlich wollen diese "Sportlichkeit" derzeit alle Hersteller, nur BMW schwimmt hier in der Tat etwas gegen den Strom.
Steigendes Gewicht, wachsende Abmessungen und auch die zunehmende Bauhöhe der Autos stehen aber im krassen Widerspruch zu mehr Agilität. Dabei soll das Auto im Testbericht der Zeitschriften auf topfebenem Asphalt beeindruckende Vorstellung abliefern, z.B. im 18-m-Slalom oder auch mal in Hockenheim.
Man sucht also nach Auswegen aus diesem technischen Widerspruch:
Diese findet man zum Teil rein subjektiv (nicht objektiv!!) in direkteren Lenkgetrieben und geringeren Lenkkräften (was aber tendenziell leider die Rückmeldung der Lenkung reduziert, denn der prozentuale Anteil der Servokraft an der Lenkbewegung wird immer höher).
Zum Teil findet man sie objektiv - insbesondere bei Fronttrieblern - in Fahrwerken mit hineinkonstruierten stärkeren Lastwechseln, die teilweise so heftig sein können, das die Kiste ohne ESP in der Tat kaum fahrbar ist. Bei Rennwagen mit Frontantrieb ist das normal, den Alltagsfahrer würde es aber völlig überfordern. Paradebeispiel war ja damals der erste Audi TT, der unbedingt gegen Z3 und Boxster anstinken sollte, ohne ESP aber schöne Abflüge produziert hat: Bei Lastwechseln wie Anbremsen auf der Autobahn.
Zum Teil findet man sie tatsächlich in immer härteren Fahrwerksabstimmungen, die zwar tolle Werte im Test ermöglichen, aber leider Traktion kosten, insbesondere bei Nässe, und damit das Fahrverhalten bei wenig Grip kritischer machen und auch auf Absätzen oder Bodenwellen viel Gutmütigkeit kosten.
Speziell bei BMW (AG-Modelle, nicht M-Modelle und Alpina) kommen die Runflatreifen mit ihren extrem harten Flanken dazu, die diese Tendenz noch weiter verschlimmern, weil der Reifen kaum noch was wegfedert. Auch die Runflat-Reifen sollten mit Sicherheit einem besseren Einlenken dienen (also mehr Agilität schaffen) und nur beiläufig der "Sicherheit" (Marketing!), nur ist der Schuss leider irgendwie nach hinten losgegangen.
Die "Lösung" sind dann bei allen Herstellern eben nicht richtig deaktiverbare ESPs.
Bei den neuen BMW-Modellen wie dem 1er geht man als Lösung wieder auf ein sehr weiches Fahrwerk zurück, behält aber die Runflat-Reifen bei, was die Sache nur bedingt löst, denn die Zuladungen sind dann sehr gering und bei Ausnutzen der vollen Beladung schlägt die Federung in Kurven auf Bodenwellen gerne mal durch, was den Wagen zum Ausbrechen bringt. Und schon sind wir wieder beim ESP.....
Zum Teil findet man die Auswege in ESP-Eingriffen, die das Untersteuern minimieren sollen.
Zum Teil findet man sie in speziellen Hinterachsgetrieben, die Torque-Vectoring machen, also das Einlenken verbessern, indem das äußere Hinterrad mehr Drehmoment zugeteilt bekommt (Audi RS5, BMW M5).
Deutlich komplexer wird die Sache nochmal dadurch, dass viele früher rein mechanisch betriebene Systeme wie z.B. ein Allradantrieb statt einem mechanischen Mittendifferenzial nun z.B. elektronisch angesteuerte Lamellensperren als "Mittendifferenzial-Ersatz" benutzen (auch bei BMW. Bei Audi z.B. alle Haldex-Systeme wie im TT oder A3). Und bei denen geht ohne ständige ESP-Kontrolle ja eh nichts mehr. Ohne ESP würde der Allradantrieb also nicht mehr richtig funktionieren!
Ein weiterer wichtiger Aspekt des ESP liegt in der Einsparung von Entwicklungskosten für Fahrwerke. Es gibt immer mehr Varianten eines Modells, inkl. abgeleitete Sportwagen, Kombis, SUVs), und für jedes dieser Derivate das volle Entwicklungsprogramm am Fahrwerk durchzuziehen ist aufwendig und teuer. Daher geht die Tendenz leider tatsächlich dahin, den Rest mit ESP zu "lösen". Traurig, aber trotzdem wahr.
Vielleicht erklärt es das etwas?
Grüße
ChrisH
Bearbeitet von: ChrisH am 29.08.2013 um 20:26:53