Alle IP-Adressen besetzt
ICANN schaltet Rootserver ab
Eine Frau ruft auf ihrem Computer einen Internetdienst auf (Foto: picture-alliance/ dpa) Großansicht des Bildes [Bildunterschrift: Nur noch wenigen Stunden im Internet, dann ist erstmal Schluss mit dem Surfen. ]
Seit mehr als zehn Jahren haben die Experten davor gewarnt, jetzt ist die Situation eingetroffen - und das noch schneller als ursprünglich erwartet: Die "Internet-Regierung" ICANN (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers) hat bekannt gegeben, dass die letzte freie IP-Adresse vergeben worden ist. Eine solche benötigt jedes Gerät, das an das Internet angeschlossen ist - gleichgültig, ob es sich um einen Server, ein Smartphone oder einen IP-fähigen Fernseher handelt.
Insbesondere der Bedarf aus China habe in den letzten Monaten für einen massiven Anstieg von Registrierungen gesorgt, so ICANN-Präsident Paul Twomey. Dass die Adressen so schnell ausgehen werden, habe aber auch die ICANN-Experten überrascht. Appelle von Institutionen wie der Bundesnetzagentur, nicht benötigte IP-Adressen möglichst zurückzugeben, stießen zudem nur auf geringe Resonanz.
IPv4 und IPv6:
Nach dem ursprünglichen Internetprotokoll IPv4 bestehen alle Netzadressen aus vier durch Punkte getrennte Zahlen zwischen 0 und 255. So wären theoretisch 256 x 256 x 256 x 256 Adressen von 0.0.0.0 bis 255.255.255.255 verfügbar, das sind 4.294.967.296 individuelle Adressen. Da diese jedoch in Blöcken von verschiedenen Größen vergeben werden und einige Bereiche für bestimmte Zwecke reserviert sind, sind es faktisch deutlich weniger - zu wenig für die aktuelle Größe des Internets.
Bei der Weiterentwicklung IPv6 sind theoretisch 2128, also rund 340.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000 verschiedene Adressen möglich - das sind mehr, als es Sandkörner auf der Erde gibt. Server, Router und Endgeräte müssen jedoch entsprechend programmiert sein, so dass sie mit dem IPv6-Protokoll umgehen können.
Drastische Maßnahmen notwendig
Schon lange gibt es mit dem Internet Protocol Version 6 (IPv6) eine Technik, die die Zahl der möglichen Adressen vervielfacht. Die konsequente Implementierung scheiterte jedoch immer wieder an Kompetenzstreitigkeiten und Kostenproblemen. "Regierungen wie Hard- und Softwarehersteller haben unsere Bemühungen um einen fließenden Übergang immer wieder sabotiert. Jetzt müssen sie die Konsequenzen ziehen", so Twomey. Ähnlich sieht es auch Computerexperte Jörg Schieb im tagesschau.de-Interview: "Zu viele haben gedacht: Was geht mich das an? Ein fataler Fehler, wie sich jetzt herausstellt."
Ein Tag ohne Netz
Videotext-Arbeitsplatz (Foto: Wulf Rohwedder) Großansicht des Bildes [Bildunterschrift: Auch in der Internet-losen Zeit informiert der tagesschau-Videotext im Ersten über alle wichtigen Ereignisse. ]
Die Folgen werden jetzt die Internet-Nutzer ausbaden müssen: Morgen um Mitternacht US-Westküstenzeit (9:00 Uhr MESZ) schaltet ICANN die Rootserver des Internets ab, um sie auf das IPv6-Protokoll umzustellen. Für voraussichtlich 24 Stunden werden deshalb weltweit keine Internetdienste mehr nutzbar sein. Man wolle den durch die Osterfeiertage bedingten Rückgang des Datenverkehrs für die Arbeiten nutzen, sagte Twomey. Danach werden alle IP-Adressen neu verteilt und Rechner, die bereits mit dem IPv6-Protokoll ausgestattet sind, wieder erreichbar sein.
In neueren Betriebssystem wie Windows Vista und 7 sowie dem Macintosh OS 10.6.2 ist IPv6 bereits implementiert. Nutzer älterer Systeme wie Windows XP werden dann jedoch offline bleiben.
Nachrichtenversorgung gewährleistet
Fernschreiber (Foto: picture-alliance/ ZB) Großansicht des Bildes [Bildunterschrift: Für die netzunabhängige Nachrichtenversorgung bei ARD-aktuell werden eigens die Fernschreiber reaktiviert. ]
Tagesschau.de sieht sich für die Zeit der Umstellung gut gerüstet. "Wir bauen für die Zeit unseren Videotext-Nachrichtendienst aus, um auch weiterhin umfassend informieren zu können", sagt Redaktionsleiter Jörg Sadrozinski. "Zum Glück haben wir die alten Fernschreiber behalten, so dass wir auch ohne Internet nicht vom Nachrichtenstrom abgeschnitten sind." Zudem werde es jede halbe Stunde eine Tagesschau-Ausgabe im Fernsehen geben.
Man werde die internetfreie Zeit nutzen, um die redaktionseigene Hard- und Software auf den neuesten Stand zu bringen, so Sadrozinski weiter. Sollte der Ausfall des Internets länger andauern, werde man zudem einen Fax-Abrufdienst für Nachrichten starten. Außerdem können in der Zeit die unbeschäftigten Online-Redakteure von tagesschau.de über eine Hotline zu aktuellen Themen befragt werden. Nutzer des T-Online-Dienstes der Deutschen Telekom können zudem eine Textversion der tagesschau.de-Seite beziehen - vorausgesetzt, sie haben noch die Software des T-Online-Vorläuferdienstes Bildschirmtext (Btx) installiert.
http://www.tagesschau.de/ausland/internetabschaltung100.html_________________________________________________________
Experte Schieb zur Internetabschaltung
"Der volkswirtschaftliche Schaden ist enorm"
Die Fakten lagen lange auf dem Tisch, doch weder die Politik noch die Industrie oder die Provider haben rechtzeitig reagiert. Jetzt ist es fünf nach zwölf: Das Internet muss für eine grundlegende Neuordnung abgeschaltet werden. Der Kommunikationskollaps hätte verhindert werden können, sagt Computerexperte Jörg Schieb im tagesschau.de-Interview.
tagesschau.de: Wäre diese Situation zu vermeiden gewesen?
Jörg Schieb: Die Experten haben rechtzeitig gewarnt. Hätten Hersteller, Provider und Konsumenten reagiert und alle ihre Geräte und Software auf den neuen, deutlich erweiterten Adressraum umgestellt, könnten wir uns jetzt entspannt zurücklehnen. Doch zu viele haben gedacht: Was geht mich das an? Ein fataler Fehler, wie sich jetzt herausstellt.
tagesschau.de: Bei wem sehen Sie die Hauptschuld?
Computerexperte Jörg Schieb Großansicht des Bildes [Bildunterschrift: Computerexperte Schieb sieht ein Versagen auf breiter Basis. ]
Schieb: Vor allem die Provider hätten ernsthafter daran arbeiten müssen, für die Zukunft gerüstet zu sein. Hard- und Software ist eigentlich schon lange auf IPv6 vorbereitet, die Provider hätten es konsequent durchziehen und die Kunden erst informieren und später sanft dazu drängen müssen, rechtzeitig auf IPv6 umzusteigen. Aber auch die Politik hat versagt: Das Internet ist heute ein derart wichtiges Glied in der Wirtschaftskette, dass der Bundeswirtschaftsminister persönlich hätte dafür sorgen müssen, dass Deutschland besser gerüstet ist. Der volkswirtschaftliche Schaden ist jetzt enorm.
tagesschau.de: Wird durch die Umstellung das Problem beseitigt sein?
Schieb: Erst wenn alle Geräte, Smartphones und alte Modems inklusive, komplett auf IPv6 umgestellt sind, dürfte das Problem als gelöst gelten, denn erst dann werden alle ungehindert und ohne Platzprobleme im Internet surfen können. Bis es so weit ist, dürften noch Jahre vergehen. Vergessen wir nicht: Es gibt Orte in Deutschland, die noch nicht mal DSL haben, geschweige denn Internet mit IPv6.
tagesschau.de: Was raten Sie Besitzern von Systemen, die nicht IPv6-kompatibel sind?
Schieb: Sie sollten sofort upgraden: Hard- und Software muss heute IPv6-kompatibel sein, genauso wie der Provider.
tagesschau.de: Wie werden Sie den Internet-freien Tag verbringen?
Schieb: Ich werde eine lange Fahrradtour machen und mein Smartphone mitnehmen, in der Hoffnung, dass es doch irgendwann wieder funktioniert. Außerdem haben sich ein paar Bücher angesammelt, die ich mal lesen könnte...
Die Fragen stellte Wulf Rohwedder, tagesschau.de.
http://www.tagesschau.de/inland/internetabschaltung102.html